Macht und Verwundbarkeit II

Gespräch II mit Rita Schulthess (Sterbebegleiterin bei EXIT) über das grösste aller Coming-Outs: den Wunsch zu sterben.

Mit der Gesprächsreihe Macht und Verwundbarkeit setzt Boris Nikitin seine langjährige Auseinandersetzung mit dem Realen und dessen Imitationen fort. Er widmet sich der Frage, wie wir in die Realität einwirken, indem wir uns exponieren, dokumentieren und propagieren und benutzt dabei die einfachst-mögliche Form: die des Gesprächs. Mit jeweils einem Gast taucht Boris Nikitin ein in die experimentellen Grauzonen des Öffentlichen, in denen Realitäten immer wieder neu getestet und erfunden werden. Wie in dem Festival It’s The Real Thing und seinen Stücken geht er auch hier der Frage nach, wie Menschen Realitäten schaffen, indem sie sich veröffentlichen und dabei im Gleichzug in ihr Selbstbild eingreifen und es verändern. Das Paradigma hierfür ist für Nikitin das Coming-out, das Nikitin  als «eine Schnittstelle zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven» und als einen «Akt der Selbstdokumentation mit Wirkungskraft» bezeichnet.

Was bedeutet es, wenn sich die südafrikanische Journalistin und Performancekünstlerin als «fat queer white trans body» bezeichnet und sich mit dem Spruch «white people fuck» in die Öffentlichkeit stellt? Wie gehen wir damit um, wenn uns nahe stehende Menschen plötzlich offenbaren, dass sie sterben möchten? Was bedeutet es, sich als Rechtsextremer zu outen und dann plötzlich die Seiten zu wechseln? Was bedeutet es, als ehemalige Grünenpolitikerin plötzlich eine restriktive Grenzpolitik zu propagieren? Welche Konsequenzen hat es, wenn ein Regisseur immer wieder versucht, die Grenzen zwischen Kunst und politischem Aktivismus zu verwischen? Was bedeutet es, sich als schwuler Soziologe selbst zum Gegenstand einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung zu machen? In den Gesprächen wird es um Fragen nach Teilhabe und Wirksamkeit gehen, um die Sehnsucht nach Anerkennung, um den Kampf gegen die Entfremdung. Nicht zuletzt soll aber eine wesentlich menschliche Eigenschaft verhandelt werden: Verwundbarkeit.

Der Schweizer Verein EXIT bietet seit seiner Gründung 1982 die Möglichkeit des assistierten Suizids. Rechtliche Grundlage ist ein altes Gesetz aus dem Schweizer Kriegsrecht, welches dem Soldaten erlaubt, bei einem leidenden Kameraden passive Sterbehilfe zu leisten. Zwar besteht das Hauptanliegen des Vereins heute nicht zuletzt darin, Menschen zum Ausfüllen einer Patientenverfügung zu ermutigen, doch ist es vor allem die öffentliche Auseinandersetzung über den Freitod, welche EXIT zu einer wichtigen, nicht selten auch umstrittenen Institution gemacht hat.
Die Zeiten der ideologischen Debatten scheinen heute jedoch vorbei zu sein. EXIT hat über 100’000 Mitglieder, ist in der Mitte der Schweizer Gesellschaft angekommen und macht das Unaussprechbare aussprechbar. Zu sagen: Ich will nicht mehr.
Gemeinsam blicken Nikitin und Schulthess auf Lebensrealitäten von Menschen, für die Selbstbestimmung gerade mit Blick auf ihr Ende wichtig ist. Dabei überrascht, dass in einzelnen Schilderungen nach der Entscheidung, nicht um jeden Preis weiter zu machen, das Leben plötzlich als „Möglichkeit“, als etwas Gestaltbares neu aufscheint – jenseits des Zwangs, leben zu müssen.

Datum

26. Nov 2018
Abgelaufen!

Uhrzeit

20:00

Veranstalter

Kaserne Basel
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